Das bürgerschaftliche Engagement wandelt sich seit Jahrzehnten – nicht alle rechtlichen Regelungen halten damit Schritt. Besonders das Gemeinnützigkeitsrecht ist dafür bekannt, dem Wandel nicht gerecht zu werden. Manche Vereine, die wichtige Arbeit leisten (z.B. Tauschringe), werden nicht als gemeinnützig anerkannt, andere wie attac oder VVN (Vereinigte der Verfolgten des Naziregimes) bekommen die Gemeinnützigkeit aberkannt. Wieder andere Vereine leben in der Sorge, dass die Aberkennung drohe.
Ein Bündnis aus 13 großen zivilgesellschaftlichen Verbänden, von amnesty international über Greenpeace bis zu Transparency international hat nun einen sehr konkreten Vorschlag für eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts gemacht.
Ablauf
19.00 Begrüßung & Einführung
19:10 Vorstellung & Diskussion: Reform der Abgabenordnung (Dirk Friedrichs, attac Bundesverband)
19:45 Open Space
20:50 Abschlussrunde
21:00 Ende des Treffens
Anzahl Teilnehmende: 15
Online via Senfcall
1. Gemeinnützigkeit reformieren
Dirk Friedrichs, Bundesvorstand von attac, gibt einen Einblick in die Forderungen für die Reform der Abgabenordnung. Die Präsentation kann hier heruntergeladen werden.
Warum die Abgabenordnung reformieren?
Die Abgabenordnung ist das zentrale Steuergesetz, das die Steuerbegünstigung für gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke regelt. In der Abgabenordnung werden 25 Zwecke der Gemeinnützigkeit aufgeführt – politisches Engagement nicht darunter. Der Ansatz ist konservativ: alles was über VHS-Bildung hinausgeht, z.B. politische Bildung, ist nicht gemeinnützig. Außerdem hängt die Einschätzung stark vom jeweiligen Finanzbeamten ab. Das bedeutet eine große Rechtsunsicherheit für viele NGOs.
Beispiel: wenn Sportverein zu einer Demo gegen Faschismus und Rechtsradikalismus aufruft, dann ist ggf. die Gemeinnützigkeit des Vereins gefährdet.
Tätig werden können die Vereine also nur in einem engen Rahmen innerhalb der eigenen Satzung. Alles was darüber hinausgeht, kann die Gemeinnützigkeit gefährden.
Wie soll die Abgabenordnung reformiert werden?
Die AO soll der Entwicklung der Gesellschaft Rechnung tragen und moderner sein. Gefordert wird eine Erweiterung der Paragrafen in der AO, denn es muss geregelt werden, was unter „gemeinnützig“ zu verstehen ist, und für alle gleich gelten (Rechtsstaat!).
Ein Bündnis von 13 Organisationen (darunter amnesty intenational, BUND und Greenpeace) hat Forderungen aufgestellt, um welche Zwecke der Katalog ergänzt werden soll:
Die Förderung …
– der nationalen und/oder internationalen Durchsetzung der Grund- und Menschenrechte
– der sozialen Gerechtigkeit
– des Klimaschutzes
– des Friedens
– der Gleichstellung aller Geschlechter
sowie Konkretisierung des Punktes „die allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens“ (soll nicht einzelnen Finanzbeamten überlassen werden und nicht in versch. Bundesländern anders gehandhabt werden → Rechtssicherheit)
Neuauslegung des bestehenden gemeinnützigen Zwecks „politische Bildung” (der Bildungsbegriff wird aktuell sehr eng ausgelegt)
Konkretisierung des Zwecks
• zwar parteipolitisch neutral
• Vertretung eigener Werte in der politischen Bildung
• auch Aufruf zu konkreten Handlungen muss möglich sein (nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch aktivieren, Verhalten zu ändern)
Rechtssicherheit für politische Betätigung zur Verfolgung des eigenen Zwecks
• Einflussnahme auf die politische Willensbildung und öffentliche Meinung (z.B. eine Tierschutzorganisation will Einfluss nehmen auf diejenigen, die über das Thema Tierschutzrecht entscheiden) – darf nicht abhängig sein von der einzelnen Finanzbeamt*in, ob es Gemeinnützigkeit gefährdet
Engagement über die eigenen Satzungszwecke hinaus
• Engagement zu satzungsfremden gemeinnützigen Themen (z.B. wenn sich Sportverein auch gegen Rassismus engagiert), wenn dies von untergeordneter Bedeutung ist (wenn es nicht zur Hauptbetätigung wird)
Streichung der Beweislastumkehr
Bsp: VVN-BdA hat Gemeinnützigkeit verloren weil er in Bayern in Verfassungsschutzbericht erwähnt war – wie es zustande kam, ist geheim, daher hatte VVN keine Möglichkeit, zu wissen, wie es dazu kam. Es hat sich eingebürgert, dass Rechtsradikale Linke bei Polizei/ Verfassungsschutz anzeigen, sodass sie im Bericht erwähnt werden können, ohne dass vorher ein Gericht das bestätigt hat. Allein die Behauptung reicht aus. Der Staat muss begründen, warum er diese Annahme trifft, dass die Organisation nicht innerhalb des Grundgesetzes bewegt
• Erwähnung in einem Verfassungsschutzbericht nicht ausreichend
• Organisationen kennen die Beweislage nicht
• Verfassungsfeindlichkeit muss begründet sein -> Rechtsfolgen
Politische Körperschaft ist keine Lösung
• Trennung von politischem und gemeinnützigen Zweck
• Spaltung der Zivilgesellschaft
Parteien sind bewusst nicht in der AO, weil es ein Parteiengesetz gibt, weil man nicht wollte, dass die Parteien unkontrolliert mit hohen Summen gesponsert werden. Deshalb gilt: Parteien max. 6000€ Spenden, mehr kann man nicht von der Steuer absetzen, ab Betrag x muss es öffentlich gemacht werden
Gemeinnützige: 35.000€ max., jetzt Anderung sogar 45.000€
1966 Urteil Verfassungsgericht: Parteien wirken an politischer Willensbildung des Volkes mit, aber kein Monopol, daneben auch einzelne Bürger, Gruppen, Verbände und Vereinigungen wirken darauf ein → ob das Urteil von 1966 noch gültig ist, hat attac nicht geprüft. Hat im laufenden Verfahren keine Rolle gespielt. Evtl hat sich das Urteil selbst revidiert
→ wichtige Punkte für die Zivilgesellschaft, dass es nicht von Goodwill von Beamten abhängen darf, sondern Rechtssicherheit
Welche Änderungen haben Bundestag und Bundesrat tatsächlich beschlossen?
Das Jahressteuergesetz wird im Dezember 2020 vom Bundestag beschlossen und vom Bundesrat bestätigt.
Nachtrag mit dem Beschluss vom 16.12.2020: Es gibt fünfeinhalb neue Zwecke: Klimaschutz, Hilfe gegen Diskriminierung wegen geschlechtlicher Orientierung oder geschlechtlicher Identität, Freifunk, Ortsverschönerung, Pflege von Friedhöfen oder Denkmälern für totgeborene Kinder und Hilfe für rassistisch (statt rassisch) Verfolgter. Es fehlen weitere neue Zwecke wie Förderung der Menschenrechte. Es fehlt auch eine gesetzliche Klarstellung zur politischen Betätigung für gemeinnützige Zwecke.
Wie geht es weiter?
Der Erfolg ist zurückzuführen auf dauerhafte Diskussion, viele Bemühungen von vielen Seiten. Sogar CDU Finanzminister der BL waren dafür.
- weiter am Ball bleiben
- Bundestagsabgeordnete einladen & sprechen
- Leserbriefe
- Wahljahr 2021 wäre gutes Jahr
- das Thema darf nicht zur Ruhe kommen
- weitere Themen ergänzen in den Forderungen? z.B. Bürokratieentlastung für Gemeinnützige?
Wie ist die Situation bei attac?
Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Klage von Attac vom Januar 2019. Der Grund:
• Einflussnahme auf politische Willensbildung und Gestaltung der öffentlichen Meinung sind nicht gemeinnützig
• Bildungsarbeit hat sich auf bildungspolitische Fragestellungen zu beschränken
Aktuell: juristisches Verfahren aufgrund des attac Urteils – wenn Bundesfinanzhof Revision ablehnt und altes Urteil bestätigt, dann wird attac eine Verfassungsklage einreichen. Dann ist es nicht mehr eine Frage der Gemeinnützigkeit, sondern: sind Grundgesetzartikel verletzt worden, wie man mit Attac umgegangen ist?
Dann steht ganze AO auf der Kippe – was ist mit allen anderen Tätigkeiten die gemeinnützig sind? Wenn nur bestimmte Zwecke rausgezogen sind und andere nicht erwähnt?
Wie unterstützen?
→ haben große Solidaritätswelle erfahren
freuen sich über Unterstützung: Mitglieder
2. Links
„Zivilgesellschaft ist gemeinnützig“
https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/die-allianz/
Informative Website mit vielen Beispielen betr. ENTZUG der Gemeinnützigkeit etc.
Die Anstalt von Juli 2019: https://www.claus-von-wagner.de/tv/anstalt/20190716-demokratie