
Die Engagementszene in Freiburg ist zu Recht stolz auf ihre Vielfalt. Aber einige Personengruppen kommen noch immer kaum vor: so sind Menschen mit Behinderung selten dabei – obwohl sie mehr als 10 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachen, viele von ihnen sich engagieren wollen und spannende Themen mitbringen. Woran liegt das? Wo sind die Barrieren? Und wie kann man sie abbauen? Was können Initiativen und Vereine aktiv für eine bessere Inklusion tun? Am 4. Dezember trafen sich von 19.00 bis 21.00 Uhr im Haus des Engagements Betroffene und Interessierte zum Erfahrungs- und Informationsaustausch.
Für diese Veranstaltung wurde freundlicherweise eine temporäre Induktionsschleife von Sound Arts installiert.
Ablauf
- Begrüßung und Vorstellungsrunde
- Impulsvorträge von Bergit Fesenfeld (Ehrenamtliche im Haus des Engagements) und Hans-Georg Fischer (Vorstandsmitglied Blinden- und Sehbehindertenverein Süd-Baden e.V.). Der geplante Vortrag von Sarah Baumgart (Stadt Freiburg – Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen) ist leider krankheitsbedingt ausgefallen.
- Austausch in zwei kleinen Gruppen
- Come Together
Motivation in der Runde
- Interesse, zu lernen (z.B. wie können wir in Freiburg bessere Unterstützungen anbieten bzw. Barrieren abbauen in Bezug auf Engagement-Förderung, usw.)
- Anregungen für Regionalprogramm von EWF (Eine Welt Forum) zum Umgang mit Behinderung zu bekommen
- Input/Feedback zu Barrierefreiheit von der Webseite des Kulturforums zu erhalten
- Anliegen/Idee: Veranstaltungsorte in Freiburg mit verschiedenen Ausstattungen aufzulisten, bzgl. Aspekte von Barrierefreiheit (z.B. wo gibt es Induktionsschleifen)
- Eigene Erfahrungen mit Behinderungen der Teilnehmenden einzubringen
Präsentation des Projekts EngagementPLUS:
- Diese Veranstaltung wurde als Teil des Projekts Engagement PLUS organisiert. Das Projekt wird von der Post Code Lotterie gefördert, und zielt darauf ab, Barrieren im Engagement- Bereich abzubauen.
- Der Schwerpunkt des Projektes liegt bei Menschen mit Behinderung und Menschen mit Migrationshintergrund. Dahinter steht die Erkenntnis, dass das HdE-Angebot für diese Gruppen weniger zugänglich und/oder bekannt ist. Diese beiden großen Gruppen sind jedoch in sich selbst sehr vielfältig. Mit dem Projekt wird ein Prozess in Gang gesetzt, der auch darüber hinaus fortgesetzt werden muss. Das Thema der Veranstaltung am 4.12. konzentriert sich auf die Barrieren, die von Menschen mit Behinderungen erlebt werden. Barrieren sind auf zwei Ebenen abzubauen:
- 1) Barrieren abbauen für die Teilnahme (z.B. an Veranstaltungen),
- 2) Barrieren abbauen, um die Teilgabe von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. In dieser Gruppe wollen sich die Menschen auch engagieren, sei es zu Themen, die sich auf die Barrieren beziehen, die sie erleben, oder zu anderen gesellschaftlichen Themen.
Impulsvorträge
1) Bergit Fesenfeld (Ehrenamtliche im Haus des Engagements). Bergit hat 8 Jahre lang im WDR als Schwerbehinderten -Beauftragte gearbeitet und hat selbst eine Körperbehinderung. Ihre Powerpoint- Präsentation kann hier gefunden werden. Die wichtigsten Inhalte:
- Menschen mit Behinderung sind keine einheitliche / homogene Gruppe!
- Es gibt verschiedenen Bedürfnisse
- Und auch verschiedene Stärken – was eine Bereicherung darstellt.
- Integration ist nicht gleich Inklusion!
- Es ist extrem wichtig, sich im Umgang mit Menschen mit Behinderungen auf gleicher Augenhöhe zu bewegen. In der Gesellschaft gibt es aber oft die Tendenz, Menschen mit Behinderung nicht als „gleichwertig“ zu betrachten.
- Kommunikation auf Augenhöhe bedeutet: „Nicht über sie ohne sie“. Mit Betroffenen zu reden ist notwendig: nur sie selbst können Fragen beantworten wie „Was brauchst du? „Wo sind deine Grenzen?“ Es ist auch wichtig, NICHT ohne Einwilligung zu helfen!
- Sprache prägt die Wahrnehmung: z.B. „Aktion Mensch“ hieß früher „ Aktion Sorgenkind“, was bereits eine Diskriminierung in sich darstellt; der Ausdruck „jemand ist an den Rollstuhl gefesselt“ suggeriert eine hilflose Person etc.etc.
- Man muss sich bewusstwerden, dass wir alle Vorurteile haben (oft unbewusst / „Unconscious bias“)
- Inklusion verlangt, dass wir unsere Wahrnehmung ändern: statt der Defizitwahrnehmung eine Ressourcenwahrnehmung, die die Stärken wertschätzt.
- Menschen mit Behinderungen verfügen über spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten; z.B. sind sie oft besonders organisationsfähig , weil sie den Alltag sehr genau planen müssen (wie komme ich zur Veranstaltung mit Rollstuhl, wie plane ich den Tag mit Energiemanagement, usw.)
- Dafür brauchen sie Rücksichtnahme – z.B. in Aufgabenteilung, Vorlaufzeit für Planung, usw.
- ABER im Engagement Bereich / Ehrenamt gibt es zu oft „keine Zeit“ fürs Mitdenken von Menschen mit Behinderung. Grund dafür ist u.a. Ressourcenknappheit (Arbeitsüberlastung) und mangelnde Kenntnisse dazu.
- Dafür brauchen sie Rücksichtnahme – z.B. in Aufgabenteilung, Vorlaufzeit für Planung, usw.
- Rücksichtnahme ist kein Vorteil, sondern ein Nachteilsausgleich.
- Menschen mit Behinderungen in ihren Stärken wahrzunehmen und auf Augenhöhe zu beteiligen, bedeutet auch eine Horizonterweiterung und Bereicherung für alle
- Menschen mit Behinderungen verfügen über spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten; z.B. sind sie oft besonders organisationsfähig , weil sie den Alltag sehr genau planen müssen (wie komme ich zur Veranstaltung mit Rollstuhl, wie plane ich den Tag mit Energiemanagement, usw.)
- Technische/räumliche Barrieren abzubauen scheitert oft an der Finanzierung; die Zuständigkeiten für Zuschüsse sind kompliziert, oft an Vorgaben gebunden (z.B. an die Festanstellung der Person mit Behinderung, an einen unbefristeten Mietvertrag etc.) und erfordern viel Energie und Zeit.
- Praktische Hinweise für die Inklusion im Ehrenamtsbereich:
- Barrieren vor einer Veranstaltung berücksichtigen , z.B.:
- Erreichbarkeit der Veranstaltungsorten (z.B. Rampe für den vorderen Teil im Haus des Engagements)
- Präsentationen vorab versenden, Menschen mit Sehbehinderungen als TN dabei sind.
- Barrieren während der Veranstaltung, z.B.
- nur Stehtische im „Steh-Empfang“ ohne Sitzplätze/mangelnde Augenhöhe für Menschen im Rollstuhl?
- Sprachebene der Veranstaltung für viele im Publikum unverständlich? (Fachwörter, usw.)
- Bedarfe von Menschen mit Hörgeräten berücksichtigt ? (z.B. Schallschutz, Lautsprecher, Induktionsschleifen)
- Barrieren vor einer Veranstaltung berücksichtigen , z.B.:
2) Hans-Georg Fischer ist seit über 30 Jahre ehrenamtlich engagiert. Er ist Vorstandsmitglied der Blinden- und Sehbehindertenverein Süd-Baden e.V. (BSVSB) und nimmt teil in unterschiedlichen Aktivitätsgruppen des BSVSB Vereins.
In seinem Vortrag erklärte er, dass er oft Diskriminierung erlebt.
Erfahrungsbericht: Viele Erfahrungen mit Behörden. Es tauchen immer wieder Absurditäten auf:
- z.B.: Barrierefreiheit an VAG Haltestellen: weiße Orientierungsstreifen bzw. geriffelte Bodenstreifen zur Orientierung für Blindenstöcke gibt es inzwischen zumindest an einigen Haltestellen, aber die VAG kann durch eine Durchsage nicht ankündigen, wann genau welche Straßenbahn ankommt, weil es angeblich zu viel Arbeit für die Fahrer_innen wäre. Stattdessen haben sie eine VAG-App entwickelt mit Lautsprecher-Funktion, aber diese funktioniert in der Praxis nicht ausreichend.
- z.B.: Ausbau der Ampeln mit akustischen Blindensignalen dauert viel zu lange und ist absolut unzureichend.
- Diese Beispiele zeigen die negative Auswirkungen auf die unabhängige Mobilität von blinden und sehbehinderten Menschen. Es braucht deswegen viel Geduld, um jahrelang solche Erfahrungen auszuhalten. Die Erfahrung legt nahe, dass alle nicken, aber es nicht ernst meinen (oder zumindest gibt es keine Verbindlichkeit).
Seine Motivation für Engagement liegt darin, dass er selbst betroffen ist, und selbst erlebt hat, dass die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ermutigt: wenn man eine Chance bekommen hat, etwas zu erleben und selbst zu machen, dann will man noch mehr erleben / machen (Empowerment). Deswegen findet er auch sehr wichtig, dass Eltern, die Kinder mit Behinderung haben, die Kinder nicht von Aufgaben „schützen“. Anstatt zu sagen „das kannst du nicht“ oder „lass mich – das mache ich schneller“, ist es besser, den Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Erfahrungen zu machen, sodass sie ihre Selbstwirksamkeit und Selbstwert spüren können. Das Gleiche gilt im Engagement Bereich: Es muss Raum dafür geben, dass Menschen mit Behinderungen selbst etwas tun können.
Come Together (Zusammenfassung) nach Austausch in zwei kleinen Gruppen
Rückmeldung von der Gruppe mit Bergit Fesenfeld
Folgende Fragen wurde diskutiert:
- Was braucht es, um das Thema sichtbarer zu machen / Initiativen/Gruppen zu erreichen
- Ideen: Mitmachbörse, gezielte Anfragen, usw.
- Warum wird das Thema als Randthema behandelt, wenn doch jede 10. mit Behinderungen lebt
- Immer noch mangelndes Bewusstsein
- Was für Ressourcen braucht man als Engagierte mit Behinderung?
- Energiemanagement, wenn es Überforderungen gibt
- Grenzen setzen, Verbündete finden
- Energiemanagement, wenn es Überforderungen gibt
Rückmeldung von der Gruppe mit Hans-Georg Fischer
- Barrieren beim Haus des Engagements: die größte Barriere ist vermutlich der Weg von der Straßenbahn Haltestelle zum Haus des Engagements.
- Wie kann man eine Website testen, um zu wissen, ob sie wirklich barrierefrei ist? Kontakt mit Betroffenen kann helfen. Es ist daher relevant, sich mit Verbänden und Vereinen in Verbindung zu setzen, die Menschen vertreten, die eine bestimmte Behinderung haben und oft wissen, wie man bestimmte Arten von Barrieren, denen sie gegenüberstehen, abbauen kann.
- Eine Herausforderung ist der Zeitmangel: wir nehmen uns nicht genug Zeig füreinander. Es wäre wichtig, die eigenen Wünsche zu äußern und Mut zu haben.
- Anmerkung: viele Behinderungen sieht man gar nicht
- Folgende Fragen wurden gestellt:
- Sind Raumbeleuchtung für Sehbehinderte störend? Ja, für manche schon, aber manchmal kosten die Lösungen zu viel (z.B. Lampen austauschen)
- Wann ist es angebracht, bei jemanden nachzufragen, ob Hilfe gebraucht wird? Ja, wenn man unsicher ist, lieber fragen
- Welche Informationsquelle/Methode nutzt man, um Information über Veranstaltungen (oder Anfahrt, Ausstattungen, usw.) zu finden? Z.B. Anfahrt: – Smartphones + Navi + VAG-App
Abschlussrunde
Ein Aspekt, das jede / jeder Teilnehmende mitnimmt:
- viele neue Perspektiven
- Barrieren sind ein Dauerthema
- es bleibt noch viel zu tun
- „Es geht nicht nur mir so, anderen geht es auch so. Ich kann daraus Mut schöpfen“
- neue Infos / Kontakte
- Orientierung / Sicherheit, mit dem Thema umzugehen
- schön, dass es Interesse hier gibt bei den Anwesenden
- froh, dass es Bereitschaft gibt, über das Thema zu sprechen, das oft als Tabuthema behandelt wird
Eine Bitte ans Haus des Engagements:
- inklusives Haus des Engagements: Weiter gute Rahmenbedingungen fürs Engagement mit Menschen mit Behinderungen zu schaffen
- Wiki für barrierefreie Ressourcen, Räume etc, wo jede und jeder eintragen kann
- Es braucht mehr Begegnungen
- Erlebniswerkstatt für die Sensibilisierung Menschen ohne Behinderung
- Kommunikationsbarriere für diese Veranstaltung und andere sind zu überwinden
- Wunsch, dass das HdE weiter an dem Thema bleibt
- weitere Finanzierung für das Thema, um weiter daran zu bleiben
- eine organisatorische Verankerung, um an dem Thema zu arbeiten
- (zeitliche) Kapazitäten im Haus des Engagements, um das Thema vorranzubringen, nicht nur für die „projektbezogene Stelle“
- Ideen, um mehr Menschen für das Thema zu erreichen/gewinnen

