Ocean Wind ist eine gemeinnützige GmbH, die europaweit Segeltörns für Menschen mit Traumaerfahrung anbietet. Die Mitarbeitenden unterstützen den Genesungsprozess von Menschen nach einem traumatischen Ereignis durch die Verbindung von Sport, Natur und Gemeinschaftserleben in der Gruppe. Die Veranstaltungen sind immer auch Seminare über Trauma. Für Ocean Wind gehört Begriff und Anschauung zusammen. Erst durch die Erfahrung erwacht das theoretische Wissen, erst durch die Theorie wissen wir, warum wir uns verhalten, wie wir uns verhalten. Als gemeinnütziges Unternehmen kommt jeder eingenommene Euro direkt unseren Projekten zugute. (Quelle: https://www.oceanwind.eu/)
Eine kurze Vorstellung von Ocean Wind gGmbH als Co-Worker*in im HdE findest du hier.
Interview mit Tim Herwig, Geschäftsführer und Gründer von Ocean Wind über Trauma und die Arbeit von Ocean Wind:
Tim: Wir müssen damit beginnen, darüber zu sprechen, was Trauma überhaupt ist. Damit holen wir es aus der Schmuddelkiste. Damit ent-pathologisieren wir es. Trauma ist keine Erkrankung. Es ist die normale Reaktion eines normalen Menschen auf ein unnormales Ereignis!
Es gibt eine Vielzahl an Definitionen für Trauma, die von verschiedenen Berufsgruppen unterschiedlich verwendet werden. In unserer Arbeit geht es um Psychotrauma und selbst das ist schwierig zu definieren. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist das Wort längst angekommen. Ich merke in meiner Arbeit immer wieder, dass jede*r irgendwie eine andere Vorstellung davon im Kopf hat, was Trauma ist. In der Folge haben Menschen unterschiedliche Vorstellungen davon, wer „traumatisiert“ ist und wie „Traumatisierte“ aussehen. Auch meine eigene Vorstellung davon hat sich in den letzten 13 Jahren professioneller Beschäftigung mit dem Thema mehrfach gewandelt. Allen voran, weil ich es selbst erlebt habe.
Eine eingängige Definition ist: „Trauma ist nicht das Ereignis, sondern das, was als Reaktion auf das Ereignis in uns passiert.“ – Gabor Maté
Welche Herausforderungen ergeben sich für dich durch die Arbeit mit Menschen mit Traumaerfahrung und ihren prekären Lebenslagen?
Menschen mit Traumaerfahrung sind nicht automatisch in prekären Lebenslagen. Trauma betrifft jeden Teil der Gesellschaft. Das Funktionsniveau von Menschen mit Traumaerfahrung kann sehr hoch sein. Führungskräfte, Leistungssportler*innen oder Elitesoldat*innen haben mit ähnlicher Wahrscheinlichkeit Erfahrungen gemacht, die potenziell traumatisierend sind, wie Geflüchtete, Randgruppen, oder Drogenabhängige. Wobei natürlich Erfahrungen wie Krieg, Flucht, extreme Armut, in sich sehr belastend sind. Diese Gruppen unterscheiden sich am deutlichsten in der Verfügbarkeit von Ressourcen (personelle/ soziale/ finanzielle). Was sich wiederum darauf auswirkt, wie wahrscheinlich es ist, dass sie eine Traumafolgestörung entwickeln. Aber jetzt wird es schnell kompliziert. Aktuell ist die größte Herausforderung das Wort „Trauma“ und wie ich durch meine Verwendung des Wortes auch die Zielgruppe erreiche, für die unser Angebot ausgerichtet ist. Mein persönlicher Schwerpunkt liegt auf Trauma nach Nah-Tod-Erfahrungen. Also Menschen, die entweder schon klinisch tot waren oder tatsächlich sehr nah dran. Die sich schon verabschiedet haben aus diesem Leben. Allerdings profitieren Menschen mit Trauma und Traumafolgestörungen unterschiedlicher Couleur von unserer Arbeit. Das macht die Zielgruppe wieder weit auf. Es gibt einfach sehr viele Menschen, die schlimme Sachen erleben mussten und die das auch ihr Leben lang mit sich rumtragen.
Ihr bringt Menschen mit Traumaerfahrung in heilungsfördernde Kontexte, wie genau lässt sich das verstehen und was bedeutet es?
Die zwei wichtigsten Bedürfnisse für jeden Menschen sind: Sicherheit (= Abwesenheit von akuter Bedrohung) und Bindung (= das Wissen/die Selbstverständlichkeit, dass es irgendjemanden gibt, der einen liebt). Mit Blick auf Säuglinge wird das besonders deutlich. Alle Säugetierbabys sterben, wenn sie niemanden haben, der sich um sie kümmert. Wenn wir bedroht sind oder uns bedroht fühlen, reagiert unser Körper. Das Stammhirn (u.a. Amygdala, Periaquäduktales Grau) und unser vegetatives Nervensystem, also der Teil des Nervensystems, den wir nicht willentlich erreichen können (+ endokrine System (Hormone)), erledigen diese Aufgabe ohne unser Zutun, also ohne, dass die höheren kognitiven Funktionen „gefragt“ werden. Daraus folgt, dass wir nicht freiwillig Stress-Belastungs-Reaktionen zeigen. Es kann auch gut sein, dass wir uns dafür schämen, uns dafür die Schuld geben, deswegen an uns zweifeln oder uns für „beschädigt“ halten.
Daraus ergeben sich zwei wichtige Wirkfaktoren, die wir bei Ocean Wind bewusst in unserer Arbeit einbauen:
Der erste Wirkfaktor ist ein Kontext, der nicht bedrohlich ist
- Dabei müssen wir auch berücksichtigen, dass Menschen subjektiv entscheiden, was für sie bedrohlich ist (s.o.). Es können auch die eigenen Gedanken/Erfahrungen/Erinnerungen (Trauma) sein, die sie bedrohen. Wiedererleben ist ein Teil der Definition von einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Traumatische Erlebnisse werden nicht erinnert, sondern „wiedererlebt“. Samt körperlicher Reaktionen wie Angst, Schwitzen, Tunnelblick, Black-out, Herzrasen (oder starker Puls-Abfall) etc. Das macht es ja so gemein für die Betroffenen. Darauf folgt dann ein Vermeidungsverhalten. Betroffenen wollen (verständlicherweise) nicht mehr in die Nähe von Gedanken oder Situationen, die sie an das Trauma erinnern. Das ist das zweite Symptommuster einer PTBS. Zudem entwickeln sie oft eine hohe Wachsamkeit/ Übererregung (Hypervigilanz). Es hilft auch nichts, wenn sie „wissen“, dass sie sich nicht in Bedrohung befinden. Der Körper muss es auch fühlen! Deswegen kommen wir hier auch nicht mit Gesprächstherapie allein weiter. Trauma ist per Definition non-verbal.
- Wir wissen aus der Traumaforschung, dass, vereinfacht gesprochen, die Aktivität in der linken Hirnhälfte (Ratio, Logik, Sprachzentrum) sowie im Präfrontalkortex (exekutive Funktionen + Bewusstsein von „Selbst“ (sog. Default Mode Network)) in akuter Bedrohung anders involviert sind. Das geht so weit, dass während eines medizinisch induzierten Flashbacks keine Aktivität mehr in den entsprechenden Hirnarealen gemessen wurde. Das sollte uns schon zu denken geben, wenn wir auf die betroffene Person einreden, sie möge sich doch bitte nicht so aufregen. Sie ist schlicht verbal nicht zu erreichen und es ist auch „niemand“ zu Hause, den man erreichen könnte.
Für unsere Aktivitäten heißt das konkret, dass wir darauf achten, dass die Person im Hier und Jetzt sein kann und sich ent-spannen darf. Das Eintauchen in die Naturerfahrungen ist hier ein großer Teil. Wir kennen alle die beruhigende Wirkung von Wäldern, Bergen oder dem Meer. Dazu fordert die Aktivität Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Ein Segelboot gibt genaue Rückmeldung darüber oder es „richtig“ im Wind steht. Das spüren unsere Teilnehmenden, ohne dass man darüber reden muss. Dazu die permanenten Reize, das Schaukeln, der Wind im Gesicht, die frische Luft, der weite Blick, das Sonnenlicht und vieles mehr. Es gibt sehr viel Forschung dazu, wir stark die Natur Erholung und Heilung fördert.
Der zweite große Wirkfaktor ist die Gruppe
- Wir wissen aus Studien über Psychiatrien, dass der Wirkfaktor „Mitpatient*in“ größer ist als der Wirkfaktor „Therapeut*in“. Wir bringen Menschen zusammen, die sich gegenseitig verstehen können, weil sie alle die Veränderung an sich selbst erlebt haben, welche das Trauma in ihnen ausgelöst hat (bewusst und unbewusst). Das gibt ihnen eine andere Glaubwürdigkeit, wenn sie zum Beispiel über das sprechen, was ihnen geholfen hat „wieder der Alte zu sein“. Das ist der gleiche Grund, weswegen die 12-Steps (Anonyme Alkoholiker) so erfolgreich sind. Weil sie von Menschen gelebt werden, die selbst die gleichen Schwierigkeiten haben.
- In kleinen Gruppen in der Natur unterwegs zu sein, ob auf dem Segelboot oder beim Wandern, schafft unzählige kleine Begegnungen. Ich habe 20 Jahre lang Gruppen in den Bergen geführt. Die Erfahrung bestätigt sich immer und immer wieder. Menschen werden zu Gefährt*innen, wenn es der Rahmen erfordert. Sogar jene, die sich nicht mögen. Sie müssen ja keine Freund*innen werden, aber für die geteilte Zeit helfen sie einander, sie achten aufeinander, sie nehmen Anteil aneinander, sie übernehmen Verantwortung für ein Gelingen, dass nur in der Gruppe möglich ist. Sprich sie geben einander ein Gefühl von Bindung. Das löst wiederum im Gehirn die Ausschüttung von Neurotransmittern aus (Dopamin, Serotonin, Endorphine, Oxytozin) durch welche wir uns wohl fühlen, Freude empfinden, besser schlafen, Geborgenheit spüren und zur Ruhe kommen. Die reduzierten Reize in der Natur und die Selbstwirksamkeit im Sport tragen dazu bei.
Was ist momentan dein größtes Projekt oder die nächste größere Aktion?
Mit Dr. Hölmer (Chefarzt im Bundeswehrkrankenhaus Hamburg und verantwortlich für die psychische Gesundheit aller deutschen Soldat*innen) bin ich im Gespräch, um unsere Arbeit für Veteran*innen/aktive Soldat*innen zugänglich zu machen und in dem Rahmen zu evaluieren. Vielleicht nehme ich so auch meine Doktorarbeit wieder auf. Etwas nahbarer für die Menschen in Freiburg ist unser Bestreben, in regelmäßigen Abständen ein 3-tägiges Segel / Trauma-Camp am Lac de Neuchâtel auf die Beine zu stellen. Dabei lernen wir segeln, lernen über Trauma, über Selbst-Regulation, über Co-Regulation und haben dabei so viel Spaß wie möglich. Glück, Freude, Spiel und Spaß sind völlig unterschätze Wirkfaktoren und insbesondere nach Trauma rar.
Was ist deine schönste Erfahrung oder dein größter Selbstwirksamkeitsmoment mit Ocean Wind?
Oh, da habe ich viele. Wenn Menschen weinen und zugleich strahlen, während sie sich bedanken. Das rührt mich immer sehr. Zuletzt war ich sehr glücklich zu sehen, wie dankbar und „transformiert“ die Teilnehmenden auf unserem ersten Ocean Wind Törn (Kroatien Mai 24.) waren. Unter folgendem Link könnt ihr euch selbst ein Bild machen.
Woran merke ich, dass ich ein Trauma habe und mir Hilfe holen darf beziehungsweise wann ist es Zeit, in Gemeinschaft sportliche Aktivitäten in der Natur zu unternehmen?
Das sind zwei unterschiedliche Fragen. Die Antwort auf die zweite Frage ist einfach. Es ist immer eine schöne Sache und darüber hinaus auch eine kluge Idee, sich selbst immer mal wieder etwas Gutes zu tun. Im Fachsprech: In den Aufbau seiner Ressourcen zu investieren, bevor man auf sie angewiesen ist.
Die erste Frage ist knifflig. Klar, oft liegt ein großes Ereignis vor (Unfall, Naturkatastrophe, Raubüberfall, etc.). Nachdem man so etwas erlebt, darf man sich nicht wundern, für eine Weile gereizter zu sein, schlechter zu schlafen, davon zu träumen oder sehr damit „präokkupiert“ (andauernde geistige Beschäftigung) zu sein. Wenn sich das nicht nach ein paar Wochen legt, sollte man bei seinem Hausarzt über die Beschwerden sprechen. Insbesondere nach Monotraumatisierung (ein schlimmes Ereignis) kann man sehr viel durch frühe und gute psychotherapeutische Interventionen verbessern. An dieser Stelle auch der Hinweis, dass es sich bei einer PTBS um ein sehr ernst zu nehmendes Krankheitsbild handelt, dass in jedem Fall auch fachtherapeutische Behandlung einer Psychotherapeut*in/Fachärzt*in erfordert. Wenn Sie betroffen sind, müssen Sie da nicht allein durch.
Buchempfehlungen, wertvolle Links, Grounding-Techniken und weitere Ressourcen unter: www.oceanwind.eu